IKRK unter Schock


Am 17.Dezember wurden in Tschetschenien sechs Mitarbeiterdes Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ermordet. Das tragische Ereignis ist ein Schock für diese Institution.


Im siebten Stock des modernen Luzerner Kantonsspitals sitzt der 34jährige Christoph Hentsch in seinem Spitalbett. Er hat eine braune Lumberjacke über das dünne Nachthemd gelegt. Patient zu sein fällt ihm offensichtlich schwer, und die beiden Schläuche, die aus seinem Oberkörper führen, sind diskret versteckt.

Hentsch war bis vor kurzem Leiter der IKRK-Niederlassung in Nowyje Atagi, einer Stadt in der Nähe der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Ohne zu stocken, erzählt er, was sich in der Nacht vom 17.Dezember in der Unterkunft der IKRK-Leute abgespielt hat.

«Mitten in der Nacht wachte ich wegen eines Schreis im Zimmer nebenan auf. Dann hörte ich Schüsse. Ich richtete mich im Bett auf und wollte mich anziehen. Da öffnet sich die Türe zu meinem Zimmer, jemand kommt herein und schiesst auf mich. Ich sehe das Mündungsfeuer der Waffe, spüre einen Schlag gegen meine Schulter und falle nach hinten, wo ich liegenbleibe.»

Was geht dem IKRK-Delegierten in dieser Situation durch den Kopf: «Ich konnte selber gar nicht glauben, was ich da erlebt hatte, so unvorstellbar war alles. Würde der Attentäter ein zweites Mal schiessen? - Ich wusste es nicht, konnte nur warten und mich meinem Schicksal überlassen. Von nebenan hörte ich das Atmen der schwerverletzten norwegischen Krankenschwester Gunnhild Myklebust. Ich spürte, dass sie am Sterben war.»

Das ganze Ereignis dauerte nur wenige Minuten. Dann kamen Leute, Kollegen. Auch ein Arzt war dabei. Sie konnten nicht mehr viel tun, denn sofort war klar: Sechs IKRK-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sind tot oder liegen im Sterben. Nur der Schweizer Delegierte Christoph Hentsch hat mit einem Lungendurchschuss eine wirkliche Überlebenschance.Mit einem Flugzeug von SOS Assistance wird Christoph Hentsch in die Schweiz geflogen und in Spitalpflege verbracht.

Das Luzerner Kantonsspital ist in dicken Winternebel eingepackt, der den ganzen Tag liegenbleibt. Hier grübelt Christoph Hentsch darüber nach, was geschehen ist: «Die Besuche meiner Kolleginnen und Kollegen sind mir sehr wichtig», sagt er. «Mit ihrer Hilfe kann ich mir klar werden, was eigentlich passiert ist, und versuchen, das Ganze zu fassen.» Er steht unter Schock. «Besonders schwierig waren die ersten Tage, da hatte ich das Gefühl einer unendlichen Leere.»

Unter Schock steht auch das IKRK-Hauptquartier in Genf: «Es war als würden wir von einer Welle getroffen, die uns in den Tagen nach dem Ereignis immer mehr lähmte», sagt eine Mitarbeiterin am Hauptsitz.

Erlebnisse verarbeiten
Nur wenige Stunden nach dem Attentat fliegt eine Gruppe von IKRK-Kaderleuten in den Kaukasus. Unter ihnen ist auch der Arzt und Psychiater Bartold Bierens de Haan. Der Mann, mit der väterlichen Ausstrahlung hat sich in den letzten Jahren intensiv mit den seelischen Belastungen der Mitarbeiter befasst. In Hunderten von Gesprächen mit Delegierten hat er eine Methode entwickelt, belastende Erlebnisse zu verarbeiten. Dabei hat er sich an den Erkenntnissen der Stressforschung und der Kriegspsychiatrie orientiert.

«Es ist wichtig, belastende Erlebnisse in der Gruppe zu verarbeiten.» sagt er. Diese Gespräche sollten nach Möglichkeit am Ort des Zwischenfalls und nicht in der Schweiz oder der Heimat der Betroffenen stattfinden.

Seine überraschendste Einsicht: «Der beste Helfer ist nicht der Psychologe, sondern ein Kollege oder eine Kollegin.» Der Arzt organisiert Gruppengespräche, hält sich selber aber im Hintergrund. Behutsam erklärt er, dass belastende Erlebnisse lange nachwirken können. «Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche und plötzliche, überfallartige Erinnerungen sind dabei durchaus normal.»

Für die Überlebenden ist es wichtig, Abschied von den toten Freunden nehmen zu können. InTschetschenien und danach in Genf wurde deshalb allen die Gelegenheit geboten, sich formell vor den Särgen der Toten zu verabschieden. Der verletzte Schweizer Delegierte konnte nicht an diesen Anlässen teilnehmen: «Das war schwierig für mich», erklärt Christoph Hentsch.

Bartold Bierens de Haan spricht in den Tagen danach mit jedem einzelnen und klärt ab, ob er zusätzliche Betreuung nötig hat. Das sei vor allem braucht, wenn jemand sehr lange nicht über eine Erfahrung hinwegkommen kann. Solche Fälle gebe es immer wieder. Manchmal wüssten die Betroffenen gar nicht, dass ein Verhalten, eine Störung, mit ihren Erlebnissen zu tun hat.

Der IKRK-Kadermann erzählt von einer Mitarbeiterin, die in der Schweiz jedesmal beim Öffnen einer Büchse mit Tomaten, Angstanfälle erlebte. Im Gespräch zeigte sich dann bald einmal, dass dieses Verhalten auf einen Zwischenfall in einem afrikanischen Land zurückging, bei dem ein IKRK-Mitarbeiter getötet und ein weiterer verletzt wurde.

In einem anderen Beispiel konnte eine junge Frau monatelang nicht mehr schlafen und hörte nachts immer wieder Geräusche. Dies waren Nachwirkungen von durchwachten Nächten in einem Spital im ehemaligen Jugoslawien, das Nacht für Nacht von Artillerie beschossen wurde.

Natürlich versucht man beim IKRK mit allen Mitteln Ereignisse, wie sie sich jetzt wieder zugetragen haben, zu verhindern. Externe Sicherheitsprofis beraten die Institution und überprüfen die Massnahmen im Feld. In einem speziellen Kurs lernen neue Delegierte, wie man sich in gefährlichen Situationen verhalten soll.

Ungebrochener Andrang
Auswirkungen haben die jüngsten Erfahrungen auch auf die Rekrutierung von neuen Mitarbeitern: «Menschen, die selber schon schwere Erfahrungen gemacht haben, sind besser für unsere Arbeit geeignet.» Gerade besonders sensible Menschen würden in extremen Stresssituationen oft sehr gut reagieren, sagt der IKRK-Arzt Bartold Bierens de Haan.

Halten Ereignisse wie das jüngste Attentat junge Menschen davon ab, sich für das IKRK zu engagieren. Nein, hört man in Genf. Und auch für den Schweizer Delegierten Christoph Hentsch ist klar: «Ich glaube fest daran, dass sich diese Erfahrung positiv auf mein Leben auswirken wird. Ich bleibe sicher beim IKRK.»
Dominik Landwehr



IKRK Präsident: «Keine Mission ist ohne Risiken»

IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga zu den Risiken der Arbeit in Konfliktgebieten.


«Brückenbauer»: Das IKRK beklagt 1996 zwei schwere Zwischenfälle mit zusammen neun Toten. Müssen Sie Ihre Leute nun darauf vorbereiten, dass sie von einem Einsatz vielleicht nicht mehr zurückkehren?


Cornelio Sommaruga: Jeder muss wissen, dass es keine IKRK-Mission ohne Risiken gibt. Das Rote Kreuz ist im Krieg geboren, um den Opfern von bewaffneten Auseinandersetzungen zu helfen.

 

Sie haben einmal gesagt: «Die Interessen der Opfer sind wichtiger als die Sicherheit unserer Delegierten». Unterschreiben Sie das heute noch?

 

Alles ist eine Frage des Masses. Unsere Mission ist es, bei den Opfern von bewaffneten Konflikten zu sein, sie zu schützen und ihnen zu helfen. Es sind unsere Mitarbeiter selber, die den Interessen der Opfer Vorrang geben.

 

Wie reagieren Sie gegenüber den Angehörigen der Ermordeten?

 

Wir selber sind ebenso erschüttert wie die Angehörigen. Wir legen ihnen die Umstände dieser Attacke offen dar. Es ist grossartig zu sehen, wie oft Eltern und Verwandte Verständnis für die Mission des IKRK haben und uns sogar aufmuntern, weiterzumachen und die Kriegsopfer nicht aufzugeben.

 

Ändert sich nach dem jüngsten Zwischenfall etwas bei Ihrer Organisation?

 

Wir wollen unsere Aufgabe weiterhin erfüllen. Unser Mandat ist uns eine Pflicht. Die Kriegsopfer haben das Recht unseren Beistand zu erhalten. Ich muss auch in Erinnerung rufen, dass wir trotz dieser tragischen Zwischenfälle im letzten Jahr aussergewöhnlich viel Positives erreichen konnten und mit unseren über 1000 Delegierten in 28 Konfliktregionen tätig waren.


Interview Dominik Landwehr.

 

 


Home