Die Schule im Ghetto

Von Dominik Landwehr

Rund 80 Prozent von Amerikas Schwarzen leben in den Städten. Allein in der amerikanischen Metropole Washington D.C. bilden die Schwarzen mit 64 Prozent die Mehrheit.

Die 29jährige Denise Marsha strahlt über das ganze Gesicht, auch wenn es in ihrem Leben nicht viel zu lachen gibt: Seit einigen Monaten ist sie in einer Wohnung, wo sie mit ihren Kindern genug Platz hat.Das Wohnhaus steht im Nordwesten von Washington D.C., in einer Gegend, in der fast ausschliesslich Schwarze leben. Ihre alte Wohnung liegt nur einige Strassenzüge weiter: «Dort hört man jeden Tag Schüsse.» Vier Kinder hat Denise Marsha: denneunjährigen Jerome, die achtjährige Jasmin, den dreijährigen Javan und die zehn Wochen alte Janna. Jedes der Kinder hat einen anderen Vater. Der Vater des jüngsten ist im Gefängnis. Grund: Drogenhandel. Warum? - «Das Leben ist schwierig. Hier gibt es keine Arbeit, kein Geld, gar nichts», sagt die Frau.

Denise Marsha ist kein Einzelfall. Ein Drittel aller Schwarzen lebt unterhalb derArmutsgrenze - dreimal mehr als bei der weissen Bevölkerung. Zwei von dreischwarzen Kindern wohnen mit nur einem Elternteil zusammen, meist mit der Mutter.

Ein Viertel im Gefängnis
Und die erschreckendste Zahl von allen: Ein Viertel der jungen Schwarzen Amerikas sitzt im Gefängnis. Schussverletzungen sind die wichtigste Todesursache bei dieser Gruppe von Menschen. Eine riesige Anzahl von verarmten Schwarzen lebt in den Innenstädten, densogenannten Schwarzen-Ghettos. Die Unterschiede zwischen diesen überwiegend «schwarzen» Quartieren und den Vorstädten, die mehr von Weissen bewohnt werden, könnte nicht grösser sein: In den Innenstädten konzentriert sich die Kriminalität, hier herrscht das Recht des Stärkeren. Oft sind die Häuser vernachlässigt, Lebensmittelläden, Arztpraxen, Handwerker- und Dienstleistungsbetriebe sind längst verschwunden. Nur die «Liquor Stores», die Spirituosenläden, haben sich gehalten. Wirtschaftlich sind diese Quartiere tot. Dafür blüht der Drogenhandel.

Schlimme Verhältnisse
Jasmin, die achtjährige Tochter von Denise Marsha, besucht gleich um die Ecke die dritte Klasse der «Garrison Elementary School». Ein langgezogenes, zweigeschossiges Backsteingebäude, das gepflegt wirkt, auch wenn sich die einfache Innenausstattung der Klassenzimmer nicht mit Schweizer Standards vergleichen lässt. Mark Lewis ist hier Lehrer und als weisser Mann gleich eine doppelte Ausnahme - das Lehrpersonal ist überwiegend schwarz und weiblich. Sarkastisch weist er darauf hin, dass es noch weit schlimmere Gegenden gibt: «Bei uns steht nur ein Wächter mit einem Funkgerät an der Tür, andere Schulen brauchen Polizisten.» Mark Lewis kennt die Familien seiner Schüler: Da ist zum Beispiel die neunjährige Ashley - ein verspieltes, Mädchen mit einem lustig gebundenen Zopf. Ashley saugt während des Unterrichts am Daumen. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, den Vater sieht Ashley nie. Das Mädchen wirkt unruhig, hat Mühe, sich zu konzentrieren. Damit ist sie nicht allein. Mark Lewis muss alle Register seines pädagogischen Könnens ziehen, um auch nur ein halbwegs ruhiges Arbeitsklima herzustellen. Da wird gekniffen und gepufft, geschwatzt und edroht: «Wart nur, ich zahl's dir heim». Der Lehrer stellt den betreffenden Schüler vor die Tür. Solches Verhalten duldet er nicht.Mark Lewis erzählt von anderen Schülern: Rayshown, der schon von vier Schulen geflogen ist, Antonio, der immer deprimiert und wütend ist, oder Keanca, der mehrmals mitansehen musste, wie auf seinen Vater geschossen wurde.

Nicht alle konnten lesen

Es ist schwierig, diesen Kindern etwas beizubringen - aber es ist nicht unmöglich. Das hat Lehrer Mark Lewis bewiesen: Gerade zwei von 20 Kindern einer dritten Klasse, die er am Anfang des letzten Schuljahres übernahm, konnten lesen. Am Ende des Schuljahres beherrschten alle das Lesen so gut, dass sie in einem nationalen Test obenaufschwangen. Diese Leistung war den grossen Zeitungen eine Story wert.In den USA leben insgesamt 33 Millionen Schwarze, das sind 13 Prozent der gesamten Bevölkerung von 260 Millionen. Neben der verarmten schwarzen Unterklasse gibt es aber auch eine schwarze Mittelklasse. Das ist nur in wenigen amerikanischen Städtenso stark spürbar wie in der Hauptstadt Washington. Hier sind auch Schwarze in höheren Positionen eine Selbstverständlichkeit. Symbolfigur ist Colin Powell, der während des Golfkriegs von 1991 als Generalstabschef diente. Powell ist heute sehr populär. Letztes Jahr war er als republikanischer Präsidentschaftskandidat im Gespräch. Zu jenen Schwarzen, die den Anschluss an die Mittelklasse geschafft haben, gehört auch Yvette Baylor.

Sie wohnt mit ihrer Familie in einem Vorort von Washington und arbeitet heute in der Bibliothek des amerikanischen Kongresses, der wohl grössten Bibliothek der Welt. «Als Schwarze musst du zehnmal so gut sein wie eine Weisse, wenn du etwas erreichen willst», sagt Yvette Baylor nicht ohne Bitterkeit. Ihre Eltern, so erzählt sie uns, erlebten noch die Zeit der strengen Rassentrennung in den fünfziger Jahren: «Damals gab es Gegenden, die den Weissen vorbehalten waren.»

Als Kind wurde Yvette Baylor an eine weisse Schule geschickt. Mit solchen Massnahmen wollte man damals die Integration der schwarzen Bevölkerung verbessern: «Alles war hier besser. In unseren Schulen hörten wir nie von höheren Schulen, die man später besuchen kann. Aber hier, in dieser weissen Schule, war daseine Selbstverständlichkeit.» Die Geschichte der Schwarzen ist ein dunkler Fleck in der Geschichte der USA:Stichworte dazu sind Sklaverei, die bis Mitte des letzten Jahrhunderts andauerte, oder die Rassentrennung, die erst in den sechziger Jahren abgeschafft wurde. Die Narben der Vergangenheit sind noch nicht verheilt: Das spürt auch die 16jährige

Gene, die Tochter von Yvette Baylor. Als die Kinder ihrer Schule eines Tages über ihreVorfahren reden mussten, war sie zunächst ratlos, dann begann sie zu weinen. Die Vorfahren der Familie Baylor waren Sklaven. Das passte schlecht ins herrschende Geschichtsbild der wagemutigen Auswanderer und Siedler, die sich den neuen Kontinent zu eigen machten.

Sünden der Vergangenheit

Was der schwarze Soziologe W.E.B. Du Bois 1903 schrieb, gilt für viele noch heute: «Weder hat die Nation sich mit den Sünden der Vergangenheit versöhnt, noch hat der schwarze Mann Freiheit im verheissenen Land gefunden.» Amerikas Schwarze spielen in vielen Bereichen des Lebens noch nicht jene Rolle, die ihnen von ihrem Bevölkerungsanteil her zustünde. Das gilt vor allem für die Politik: Im 100köpfigen Senat, der kleinen Kammer des amerikanischen Parlaments, sitzt nur gerade ein Schwarzer. Etwas besser sieht es im Repräsentantenhaus, der grossen Kammer, aus:40 von 435 Mitgliedern gehören zur schwarzen Minderheit. Möglich war dies allerdings nur dank Änderungen bei der Definition der Kongressbezirke.

Heisses Eisen

Der amtierende Präsident Bill Clinton hat diesen heiklen Punkt der Minderheitenpolitik im letzten Wahlkampf sorgfältig ausgeklammert, wohl um seine weissen Wähler nicht zu vergraulen. «Nachdem Clinton dann aber auch Spitzenposten mit Schwarzen besetzt hatte, ist er heute bei ihnen sehr beliebt», sagt Michael Fletcher, Spezialist für Fragen der schwarzen Minderheit bei der renommierten «Washington Post». Sonntagnachmittag in der katholischen St.-Augustinus-Kirche, die bis auf den letzten Platz besetzt ist. Drei Viertel der Besucher sind schwarz. Die Kirche ist ein wichtiger Angelpunkt für die schwarze Gemeinschaft dieser Stadt. Pastor Charles C.Green liest die Messe, hinter dem Altar hat sich ein Chor aufgebaut, er wird von Piano,Elektrobass und Schlagzeug begleitet. Pastor Green schafft es in wenigen Augenblicken, eine konzentrierte, aber dennoch gelöste Atmosphäre zu verbreiten. Er spricht von der Arbeitslosigkeit, welche die Menschen in diesem schwarzen Quartier so bedrückt, von der Hoffnungslosigkeit, dieauf den Menschen lastet. Und wenn er aus dem 19.Kapitel des Matthäus-Evangeliumsliest, weiss jeder, was damit gemeint ist: «Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein».


Lesen Sie dazu auch das Interview mit dem schwarzen Harvard Soziologen William Julius Wilson:
Die Innenstädte verarmen



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