Das IKRK
Vom Familienbetrieb zum Grossunternehmen
Von Domink Landwehr
Stichworte
Die Adresse ist symbolisch, die Umgebung international:
Das Hauptquartier des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz liegt an
der Avenue de la Paix 19, mitten im Genfer UNO-Quartier. Die Nachbarn:
Der Völkerbundpalast mit dem heutigen UNO-Hauptquartier, die Internationale
Arbeitsorganisation ILO und hinter dicken Mauern mit Stacheldraht die
Botschaft der russischen Föderation. Wer von der Strasse aus das
alte Haus mit der Rotkreuzfahne sieht, vermutet hier kaum eine grosse
Organisation. Dieses Haus war einst das vornehme Hotel Carlton, später
ein Mädchenpensionat für die 'jeunes filles' aus der deutschen
Schweiz.
Man betritt das Haus durch die ehemalige Hotelhalle - eine Fotoausstellung
zeigt Bilder aus IKRK-Aktionen im ehemaligen Jugoslawien. Halle und Eingang
wurden kürzlich renoviert - aber immer noch wirkt hier alles bescheiden,
vielleicht sogar etwas verschlafen. Eine breite Treppe führt in die
ehemalige Beletage mit dem ´Grand Salon', der auch heute noch Empfängen
und offiziellen Anlässen dient. Das Parkett quietscht unter den Füssen.
Hier hängen die vier Nobelpreisurkunden, die das IKRK in seiner Geschichte
erhalten hat.
Doch der erste Eindruck trügt. Denn dieses Haus beherbergt nur
noch einen kleinen Teil der Angestellten des IKRK-Hauptsitzes unter ihnen
Präsident und Direktion. Hinter dem ehemaligen Hotel sind neue, zweckmässige
Bürogebäude entstanden. Trotz der Neubauten scheint alles aus
den Nähten zu platzen. Büroräume sind Mangelware und buchstäblich
jede Besenkammer ist belegt. -
Wachstum
Das war nicht immer so: Noch
vor 25 Jahren war das IKRK eine verhältnismässig kleine Organisation:
234 Personen arbeiteten am Hauptsitz, im Feld waren es gerade 65. Seither
hat sich die Zahl der Mitarbeiter in Genf auf 664 verdreifacht, die Zahl
der Feldmitarbeiter ist explodiert; heute sind über l000 Delegierte
für das IKRK im Feld, dazu kommen noch fast 4000 vor Ort rekrutierte
Kräfte. Das Wachstum und die damit verbundene Raumknappheit sind
denn auch nichts Neues für die Männer und Frauen am Hauptsitz,
welche die Aufgaben des IKRK in über 60 Ländern planen, koordinieren
und überwachen. Eine Arbeit, für die 1994 fast eine Milliarde
Franken budgetiert war.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Wachstum des IKRK beschleunigt:
wohl blieb die Zahl der Mitarbeiter in Genf praktisch konstant: die Anzahl
der Feldmitarbeiter hat sich aber verdoppelt, die Ausgaben haben sich
gar verdreifacht. Damit hatte in Genf niemand gerechnet. Mehr noch: Das
neue Wachstum hat viele Kaderleute auch beunruhigt. Das grosse IKRK-Schiff
wird immer schwerer zum Steuern. Aber das ist nur eines. Es gilt auf der
anderen Seite auch die Mittel für die gewachsenen Aufgaben zu finden
und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die westlichen Industrienationen
von der grössten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit heimgesucht
werden. Gibt es, so fragt man sich in Genf, eine Kapazitätsgrenze?
Vielfältige Gründe
Gründe für dieses Wachstum sind vielfältig.
Wohl hat das Ende des Kalten Krieges eine Vielzahl von neuen Konflikten
ausgelöst - auf dem Balkan, in der ehemaligen Sowjetunion, auch der
Konflikt in Somalia ist ein Beispiel. dafür. Das Wachstum des IKRK
hat aber schon anfangs der 70er Jahre begonnen: Das IKRK hatte eben seine
erste grossen Hilfsaktion in Biafra hinter sich. Jean-Pierre Hocké,
der nachmalige UNO-Hochkomissar für Flüchtlinge war in den Jahren
1973-81 Direktor der Operationen und er hat dem IKRK eine völlig
neue Dynamik verpasst, glaubt ein IKRK-Kadermann. Während dieser
Zeit hat sich die Organisation stark entwickelt. Zu den traditionellen
Aufgaben - allen voran den Besuchen von Kriegs- und Sicherheitsgefangenen
- kamen nun auch grosse Hilfsoperationen: Nahrungsmittelhilfe im grossen
Stil oder medizinische Hilfe. Dass sich das IKRK etwa auf dem Gebiet der
Kriegschirurgie engagiert und vielerorts orthopädische Ateliers aufgebaut
hat, ist ein neueres Phänomen. Beide, Kriegschirurgie und Orthopädie
wurden während des Afghanistankonflikts weiterentwickelt. In jüngere
Zeit hat das IKRK auch Saatgutaktionen lanciert - beispielsweise in Angola
- oder Projekte in der Trinkwasserversorgung von Krisengebieten an die
Hand genommen. Nach dem Golfkrieg beispielsweise hat das IKRK in Bagdad
mitgeholfen, die zerstörte Trinkwasserversorgung wiederaufzubauen.
Top-Manager gesucht
Das gesteigerte Wachstum der Zeit nach dem Ende
des Kalten Krieges rief nach einem Top-Manager und einen solchen fand
man in den eigenen Reihen, in der Person des Arztes Peter Fuchs. Er ist
kein altgedienter IKRK-Mann und arbeitet erst seit 1983 für die Organisation.
Zuvor war Fuchs Oberarzt am Universitätsspital in Zürich. Für
das IKRK war er in zahlreichen Delegationen tätig, war stellvertretender
Direktor der Operationen und leitete 1990 den Krisenstab "Golfkrieg"
und den Stab "Jugoslawien". Im Mai 1992 wählte ihn das
Komitee zum neuen Generaldirektor.
Sein Büro liegt in einem Eckzimmer im ersten Stock des alten Hauptgebäudes.
Das Mobiliar besteht aus einfachen Warenhausmöbeln. Einziger Luxus:
Die Aussicht aus den beiden Fenstern auf den Lac Léman und Genf.
Der Kaffee, den uns Peter Fuchs anbietet, stammt aus der Espressomaschine
im Büro, die der Generaldirektor selber bedient. Das ist sein Stil:
unkompliziert und direkt. Fuchs ist kein Diplomat, mehr schon ein Macher.
Der Generaldirektor ist nicht der höchste Mann im IKRK - schon
eher ein 'primus inter pares', der am Hauptsitz für die administrativen
Angelegenheiten zuständig ist. Zwei weitere Direktoren stehen neben
ihm: Jean de Courten, Direktor der Operationen und Yves Sandoz, zuständig
für völkerrechtliche Angelegenheiten. Wichtige Entscheide fallen
aber im Exekutivrat, dem neben dem Präsidenten alle Direktoren sowie
drei Mitglieder des Komitees angehören. Der Exekutivrat trifft sich
wöchentlich. Hierarchisch über dem Exekutivrat steht das Komitee.
Es besteht aus 15-25 Schweizern, man trifft sich einmal im Monat und bestimmt
die generelle Politik und die Strategien des Internationalen Komitees
vom Roten Kreuz. Das Komitee ist auch für die Wahl der höchsten
Kaderleute zuständig.
Vor seiner Wahl zum Generaldirektor legte
Peter Fuchs dem Komitee dar, wie er drei Kernbereiche der Organisation
in Zukunft gestalten wollte: Es ging dabei um die Finanzen, das Personal
und die Information der Genfer Institution. Das sind alles Schlüsselbereiche
des Wachstums.
Ein Konzept für die Riesenfinanzen
Zunächst die Finanzen: 949 Millionen Franken
hat das IKRK für 1994 budgetiert - die effektiv ausgegebene Summe
dürfte leicht darunter liegen. Nicht alles, was geplant ist, lässt
sich auch verwirklichen. Die Realisationsquote liegt etwa bei 80 Prozent.
Um auf kurzfristige Bedürfnisse reagieren zu können unterhält
die Genfer IKRK-Zentrale einen Fonds mit rund 65 Millionen Franken, der
schnelles Handeln ermöglicht. Das Geld liegt nicht auf einem Sparkonto:
"Wir betreiben ein aktives Cash-Management", erklärt dazu
IKRK-Finanzchef Hansjörg Eberle. Oberstes Ziel ist die sofortige
Verfügbarkeit des Geldes. Währungsschwankungen werden mit Instrumenten
des Geldmarktes abgefedert ('zero cost options'). Das ist kein Luxus,
denn ein grosser Teil der IKRK-Einkünfte stammt aus Fremdwährungen.
Welche Banken betreuen die IKRK-Gelder? - Hier gibt man sich zugeknöpft.
Peter Fuchs verrät immerhin soviel: "Wir arbeiten mit mehreren
Schweizer Banken zusammen".
Bei der mittelfristigen Planung hilft ein neugeschaffenes Management-Informationssystem:
Ein 25-seitiges Papier, das jeden Monat neu erstellt wird und alle wichtigen
Informationen aus dem Finanzbereich vereinigt. "Ein dynamisches Instrument",
erklärt Finanzchef Eberle. Es erfasst die gesamte Finanzsituation
der Organisation und versucht in die Zukunft zu schauen. Das gilt für
die Ausgaben, aber auch für die Einnahmenseite. Bei den Einkünften
beispielsweise wird nach drei Kategorien unterschieden: Eingegangene Zahlungen,
versprochene Beträge und 'Potential'. Damit sind Zahlungen gemeint,
welche die Regierungen allenfalls noch bereit wären, zu leisten.
Eberle:"Diese Informationen waren immer schon vorhanden, aber sie
wurden nicht in dieser Art zentralisiert."
Die Geldgeber haben die Möglichkeit zu bestimmen, für welche
Aktionen ihr Geld verwendet werden soll - man spricht dabei vom 'earmarking'.
Für einige Aktionen fliessen die Gelder dabei reichlicher als für
andere. Die Prioritäten der Geberstaaten sind nicht unbedingt die
Prioritäten des IKRK. Es gibt viele Aktionen, die chronisch von Geldknappheit
bedroht sind: dazu gehören zur Zeit beispielsweise Afghanistan, Angola
und der Sudan. Hier versucht das IKRK zunächst intern Mittel umzulagern.
Funktioniert das nicht, wird bei den Geberländern speziell um Mittel
für diese Aktionen nachgesucht.
Personalpolitik: Zwischenbilanz mit 40
Das Wachstum zeitigt auch seine Wirkungen in der
Personalpolitik: Noch vor 20 oder 30 Jahren stammte ein Grossteil der
IKRK-Mitarbeiter aus alteingesessenen Genfer Familien. Angestellt wurde
man meist nur für einige Monate. Man wies in Genf immer auf das "risque
de paix" hin, das langfristigen Anstellungen im Wege stand, erinnert
sich ein langjähriger Delegierter. Die Hoffnung auf eine friedlichere
Welt, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg genährt wurde, erwies
sich als trügerisch. Die Anzahl der IKRK-Mitarbeiter hat seither
konstant zugenommen. Um den heutigen Bestand von über l000 Felddelegierten
zu erhalten, müssen jährlich 150-250 neue Leute eingestellt
werden. Das ist für das IKRK trotz Rezession nicht einfach. Einsätze
in Krisengebieten wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda sind nicht
immer ungefährlich, zudem birgt ein mehrjähriger Einsatz im
Ausland immer die Gefahr der Entfremdung. Zuviele jüngere Delegierte
verlassen die Organisation heute schon nach zwei bis drei Jahren. Nicht
wenige fühlten sich bereits nach dieser Zeit ausgebrannt. IKRK Delegierte
sind mit einer neuen, nie dagewesenen Brutalität und der Missachtung
von sämtlichen humanitären Normen konfrontiert: Aus Ruanda berichten
IKRK-Delegierte, dass Soldaten verletzte Feinde aus IKRK-Ambulanzen herauszerrten
und auf der Stelle erschossen. - Das Humanitäre Völkerrecht
wird noch weniger respektiert als früher, meinen ältere IKRK-Mitarbeiter.
IKRK-Generaldirektor Peter Fuchs will der schleichenden Erosion im Personal
mit einer neuen Personalpolitik und einer sorgfältigen Karriereplanung
begegnen. Eine Laufbahn beim IKRK verläuft heute in drei Phasen:
sie beginnt mit einem ersten Abschnitt, der zwei bis drei Jahre dauert.
Nach dieser Phase des gegenseitigen Kennenlernens ist ein Uebertritt in
die Schweizer Berufswelt in der Regel unproblematisch. Rund 50 Prozent
der Mitarbeiter verlassen die Organisation nach dieser Zeit. In einer
zweiten Phase, die rund zehn Jahre dauert, übernimmt der Mitarbeiter
erste Kaderfunktionen. Während dieser Zeit zahlt das IKRK regelmässig
auf ein Sperrkonto - dort liegen nach zehn Jahren rund zehn Monatslöhne.
"Zukunftskapital" nennt man dies in Genf. Damit will man den
Uebertritt der Mitarbeiter nach diesem Abschnitt erleichtern. Nach dieser
zweiten Phase soll nur noch beim IKRK bleiben, wer eine Funktion in der
oberen Führungsebene der Organisation übernehmen kann. Anders
als auf dem Feld soll die Anzahl der Stellen am Genfer Hauptsitz nicht
mehr wachsen. Das bedeutet, dass ein IKRK-Mitarbeiter auch nach jahrelangem
Einsatz nicht damit rechnen kann, am Hauptsitz weiterbeschäftigt
zu werden. Es ist aber nicht jedermanns Sache, ständig in Krisengebieten
zu arbeiten und dort auch zu leben. So bleibt vielen nichts anderes übrig,
als die Organisation zu verlassen. Ein spezialisiertes Outplacement-Unternehmen
hilft dabei, und seit kurzem hat man in Genf auch Kontakte mit anderen,
international arbeitenden Unternehmen in der Schweiz aufgenommen. Ziel
ist die Einrichtung einer Stellenbörse. Fuchs:"Fähigkeiten
und Erfahrungen unserer Mitarbeiter werden heute auf dem Schweizer Arbeitsmarkt
noch unterschätzt".
Wer in dieser dritten Phase noch bleibt, soll nicht bis zum Pensionierungsalter
arbeiten: Nach der neuen Personalpolitik kann ein IKRK-Mitarbeiter ab
dem 57. Altersjahr pensioniert werden. Als Pensionierter kann er aber
dann noch im Mandatsverhältnis für die Organisation weiterarbeiten.
Damit soll sichergestellt werden, dass Know-How und Erfahrung nicht verlorengehen.
Die neue Personalpolitik trägt bereits erste Früchte: Lange
Zeit war es für das IKRK schwierig, die mittleren Kaderstellen zu
besetzen. Der Engpass scheint heute weitgehend überwunden zu sein.
Lange Zeit waren im IKRK Westschweizer in der Mehrheit - auch das ändert
sich langsam: Immer mehr finden auch Deutschschweizer den Weg zum IKRK.
Man will ganz gezielt junge Menschen aus der Deutschschweiz ansprechen
und hat dieses Anliegen im vergangenen Sommer (1994) auch an die Presse
getragen. Schlechte Französischkenntnisse sind heute kaum mehr ein
Hindernis: Lingua franca ist heute ohnehin das Englische. Rund die Hälfte
der IKRK-Feldmitarbeiter sind Deutschschweizer:"Es dürften ruhig
noch etwas mehr sein", meint Peter Fuchs.
Agressive und offene Informationspolitik
Der dritte Punkt in der Reorganisation am IKRK-Hauptsitz
betrifft die Informationspolitik. Gegenüber Journalisten war man
in der Vergangenheit zurückhaltend. Mit dem Hinweis auf die Interessen
der Opfer und den Vereinbarungen mit den kriegsführenden Parteien
verbat man sich ausführliche Informationen. Die Mitarbeiter belegte
man mit einer Schweigepflicht, die weit über das übliche Mass
hinausging. Auf Verstösse dagegen reagierte man in Genf nicht immer
sehr geschickt: als 1982 der ehemalige IKRK-Delegierte Dres Balmer ein
Buch über seine Erfahrungen in El Salvador schrieb, liess das IKRK
die Publikation kurzerhand verbieten. Die Aktion stiess bei der Schweizer
Oeffentlichkeit auf wenig Verständnis. Affäre und Gehässigkeiten
sind heute vergessen, Balmers Buch ist wieder zu kaufen. Und in der Informationspolitik
weht ein neuer Wind. Dazu gehört etwa, dass man eine deutlichere
Sprache spricht als in der Vergangenheit und Verstösse gegen das
humanitäre Völkerrecht beim Namen nennt. Formulierungen wie
"Israel soll sofort aufhören, seine Gefangenen schlecht zu behandeln"
sind heute durchaus möglich. Man braucht kein Diplomat zu sein, um
diese Formulierung zu interpretieren.
Der Grund für diese Kurskorrektur ist einfach: "Auch Staatschefs
erfahren heute von neuen Konflikten aus den Medien", meint Peter
Fuchs. Ganz spezielle Aufmerksamkeit widmet man in Genf nun dem Fernsehen
und hat darum seit kurzem einen Koordinator für die Bedürfnisse
der Fernsehanstalten angestellt.
Immer wieder versucht das IKRK in Genf
an vergessene Konflikte zu erinnern: So schickte man beispielsweise ein
Kamerateam nach Afghanistan und überliess das gesamte gedrehte Material
einer internationalen Bildagentur. Das Resultat: über 60 Beiträge
in den Nachrichtensendungen in aller Welt; Afghanistan war wieder in den
Schlagzeilen.
Letztlich gelten aber auch für das IKRK und seine moralisch hochstehenden
Ziele die Gesetze der Massenmedien und Information ist eine kurzlebige
Ware. Auch eine bestens geölte Public Relations Maschine hat ihre
Grenzen, wie gerade das Beispiel des Afghanistankonfliktes erkennen lässt:
Kaum waren die Fernsehbeiträge mit dem IKRK-Material ausgestrahlt,
wurde dieser Konflikt wieder von anderen Aktualitäten in den Hintergrund
gedrängt. In Afghanistan wird aber auch jetzt noch gekämpft
- nur spricht niemand mehr vom Elend der Bevölkerung des kleinen
Berglandes am Hindukusch.
Das IKRK stellt sich heute als dynamisches Unternehmen dar. Man will
der Welt zeigen, dass man das Wachstum im Griff hat. Das Wachstum hat
jedoch Grenzen, denn die finanziellen Möglichkeiten der Geberländer
sind beschränkt. Das sagt ein Diplomat der ständigen Mission
der Vereinigten Staaten - dem grössten Geberland des IKRK - und auch
ein Vertreter des Eidgenössischen Departementes für auswärtige
Angelegenheiten kommt zum gleichen Schluss.
Noch vor einigen Jahren gab es innerhalb
und ausserhalb der Organisation Leute, die sich für eine Beschränkung
auf die traditionellen Bereiche der IKRK-Arbeit stark machten: auf die
Gefangenenbesuche, auf die Aktivitäten des Suchdienstes, auf die
Weiterentwicklung und Verbreitung des humanitären Völkerrechtes.
Im Gespräch weist Peter Fuchs darauf hin, dass diese Diskussion abgeschlossen
sei und auch Kritiker heute vom Sinn grosser und teurer Aktionen überzeugt
sind. Nahrungsmittelhilfe beispielsweise ebnet in vielen Fällen den
Zugang zu den Opfern und macht jene Aktivitäten erst möglich,
die das IKRK als seine Kernaktivitäten betrachtet. Fuchs kritisiert
denn auch die Arbeitsteilung zwischen der UNO und dem IKRK im ehemaligen
Jugoslawien, wo die Versorgung von belagerten Gebieten ganz in den Händen
der UNO liegt:"Weil die UNO eine stark politisierte Organisation
ist, erhalten grosse Teile der Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien
keine Hilfe von aussen". Die UNO wird dort als klar anti-serbisch
wahrgenommen. Demgegenüber kann das IKRK seine Neutralität immer
wieder beweisen und wird deshalb von allen Konfliktparteien viel besser
respektiert.
Wie weiter? - Am IKRK-Hauptsitz gibt man sich heute
gelassen:"Die Wachstumsphase scheint vorläufig abgeschlossen
zu sein, wir gehen von einer Konsolidierung in den nächsten Jahren
aus," meint Generaldirektor Fuchs.
Rotkeuz-Föderation: Nicht immer eitel Mitte mit dem IKRK
Wer in Genf mit dem Taxi zum IKRK fährt und
den Chauffeur salopp bittet zum Croix-Rouge gebracht zu werden, der kann
leicht eine Ueberraschung erleben. Mit etwas Pech landet er nämlich
nicht beim IKRK-Hauptsitz an der Avenue de la Paix, sondern am Chemin
des Crêts, bei der Internationalen Föderation der Rotkreuz-
und Rothalbmondgesellschaften. Ist das nun die Konkurrenzorganisation
zum IKRK? - Ein Blick in die Geschichte klärt die Frage.
163 nationale Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften
gibt es heute, und auch sie gehen auf Henri Dunant zurück. Zu diesen
nationalen Gesellschaften gehört auch das Schweizerische Rote Kreuz,
das bereits 1866 gegründet wurde. Diese Organisationen sollten die
Staaten beim Aufbau von Sanitätsdiensten beraten, bald kamen noch
andere Aufgaben, etwa in der Katastrophen- und Nothilfe und im Gesundheitswesen
dazu. Zusammen gründeten sie 1919 die Liga, die heutige Föderation,
als ihren Dachverband. Anders als das IKRK wollten sie nämlich auch
in Friedenszeiten aktiv sein. Damit erhielt das IKRK einen Mitspieler
auf dem internationalen Parkett. Heute gibt es in der Rotkreuzbewegung
einen Dualismus. Einen Aussenstehenden mag es denn auch nicht erstaunen,
dass der amtierende Präsident der Föderation, der Venezuelaner
Mario Villaroel im Mai 1994 vorschlug, Föderation und IKRK in einer
Organisation zusammenzufassen. Mit seinem Vorschlag wirbelte er etlichen
Staub auf. Dem IKRK nahestehende Kreise werten den Vorschlag als nackte
Provokation und vermuten reine Machtinteressen dahinter. Denn die beiden
Organisationen unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: in der Neutralität.
Das IKRK ist neutral, die Föderation ist es nicht, kann es nicht
sein, denn ihre Mitglieder sind es häufig nicht. Eine Diktatur wird
eine neutrale Rotkreuzgesellschaft nie dulden. Die Frau des Serbenführers
Karadzic beispielsweise tritt als Präsidentin der Rotkreuzsektion
in der Serbenrepublik in Pale auf. Ein anderes Beispiel: zwischen 1975
und 80 war das kambodschanische Rote Kreuz in den Händen der Roten
Khmer. Die Rotkreuzgesellschaften in den ehemaligen kommunistischen Staaten
waren durchs Band weg der verlängerte Arm der kommunistischen Partei.
Dass die Ziele der Föderation eher machtpolitisch als humanitär
begründet sind, zeigt auch folgende Geschichte: als das IKRK sich
1990 um einen Beobachtersitz an der UNO bemühte, versuchte die Föderation
diese Absicht zu torpedieren und empfahl den nationalen Rotkreuz- und
Rothalbmondgesellschaften ihren Einfluss bei den jeweiligen Regierungen
geltend zu machen und ein zustimmendes UNO-Votum zu verhindern. Die Föderation
wollte den Beobachtersitz für die Rotkreuzbewegung als Ganzes. Heute
haben beide Organisationen je einen Beobachtersitz bei den Vereinigten
Nationen. Etwas salopp ausgedrückt könnte man sagen, das IKRK
fühlt sich durch die Föderation immer wieder kompromittiert.
Die Föderation ihrerseits möchte, dass vom Glanz und Ansehen
des IKRK auch etwas auf die eigene Organisation überspringt.
Mindestens auf dem Papier ist heute die Arbeitsteilung zwischen Föderation
und IKRK klar: Die Föderation koordiniert die Arbeit der Rotkreuz-
und Rothalbmondgesellschaften, sie und ihre Mitglieder helfen weltweit
bei Katastrophen, gleichzeitig leistet man auch Entwicklungsarbeit. Demgegenüber
interveniert das IKRK bei Kriegen und Konflikten. Diese Arbeitsteilung
ist schon heute problematisch, denn es wird immer schwieriger, die Grenzen
zwischen Katastrophen und bewaffneten Konflikten zu ziehen. In Zukunft
dürfte dies noch schwieriger werden. So warnt etwa der renommierte
amerikanische Journalist Robert D.Kaplan: Die Kriege im 21.Jahrhundert
werden anders sein als heute. Stichworte dazu sind etwa: Kampf um knapper
werdende Ressourcen, globale Katastrophen wie das Ansteigen des Meeresspiegels,
bürgerkriegsähnliche Zustände in den verslumten Innenstädten.
Robert D.Kaplan ist ein erfahrener Analytiker - er wies beispielsweise
schon in den 80er Jahren auf das Pulverfass auf dem Balkan hin. Seine
Rufe blieben nicht ungehört und Kaplan ist heute Mitglied einer informellen
´groupe de réflexion' des UNO Generalsekretärs Boutros
Boutros-Ghali. Ein anderes Mitglied dieser Gruppe: IKRK Generaldirektor
Peter Fuchs!
Mit den neuen Konflikten dürfte die Arbeitsteilung in der Rotkreuzbewegung
auch weiterhin zur Diskussion stehen. Beim IKRK scheint man sich heute
schon intensiv Gedanken über diese Problematik zu machen: "Die
Bedeutung des Wassers in den bewaffneten Konflikten" hiess der Titel
einer Tagung, die das IKRK im November 94 durchführte. Die Zukunft
hat schon begonnen.
Anmerkung vom Dezember 1996: Der IKRK Generaldirektor wird auf den 1.1.97
von Paul Grossrieder abgelöst, der die angefangenen Reformen weiterführen
und ausbauen will,
Dieser Text erschien in der Zeitschrift NZZ FOLIO vom Februar 1995.
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