Von Thun nach Siebenbürgen

Aus dem Brückenbauer 43, 25. Oktober 1995

Schon 30 Lastwagentransporte nach Rumänienhat die 40jährige Thunerin Jrène Liggenstorfer organisiert. Für ihren Einsatz erhielt sie viel Anerkennung und die Ehrenbürgerschaft einer rumänischen Stadt


Bild von Jrčne Liggenstorfer Silberhornweg 12, Uetendorf-Allmend - wir sind in einem ruhigen Einfamilienhausquartier, einige Minuten von Thun entfernt. Doch die Ruhe trügt. An diesem schulfreien Mittwochnachmittag ist im Haus der Familie Liggenstorfer einiges los: Ueli, Andreas-Lars und Christian-Sven, die drei Buben von Jrène Liggenstorfer tollen in der Stube herum. Aus dem Lautsprecher tönt Mani Matters Erfolgslied «I han es Zündhölzli azündt». Immer wieder klingelt das Telefon. Die Buben kennen den Song längst auswendig und singen begeistert mit.

Mani Matters Geschichte vom Zündholz, das auf den Teppich fiel und fast einen Flächenbrand auslöste ist vielleicht typisch für Jrène Liggenstorfers Arbeit: Auch bei ihr brauchte es vor fünf Jahren nur einen Funken. Heute führt sie ihr eigenes Hilfswerk, das sich sehen lassen kann. «Region Thun hilft Rumänien» heisst die Organisation. Vereinspräsidentin Jrène Liggenstorfer zieht die Fäden aus ihrem kleinen Büro im Keller des Einfamilienhauses am Silberhornweg: Computer, Fax, Kopierer, Telefon, dazu meterlange Registraturen und Korrespondenz - alles ist da. Schon 29 Fahrten nach Rumänien hat sie mit dem vereinseigenen Lastwagen organisiert. Bei unserem Besuch laufen die Vorbereitungen für die 30. Fahrt und auch die Weihnachtsfahrt ist nicht mehr weit. Was im eigenen Haus nicht Platz findet ist in einem Lagerhaus, nur einige hundert Meter vom Wohnort entfernt, untergebracht. Fein säuberlich angeschrieben türmen sich hier die Bananenschachteln. Ein Teil der Waren ist bereit und sortiert für den nächsten Transport. Vor uns liegen die letzten 25 Kisten geöffnet. Sie sind bereits zur Hälfte mit Medikamenten und Verbandstoff gefüllt. Das sind Hilfsgüter für eine Reihe von Dorf und Quartierpraxen in Siebenbürgen. Die medizinische Versorgung von Rumänien ist auch heute noch sehr unzureichend, in ländlichen Gegenden fehlt sie häufig sogar ganz. Die regelmässigen Besuche der Thuner sind darum sehr willkommen.

Mehr als Renovationen

Die Thuner haben im Lauf der letzten Jahre in verschiedenen Ortschaften medizinische Einrichtungen renoviert, Patenschaften vermittelt, Fürsorgevereine gegründet und einen Schulungsfonds eingerichtet. Ein grosses Projekt im Moment ist die sanfte Renovation eines Spitals in der Ortschaft Caransebes. Renovation bedeutet hier nicht nur bauliche Verbesserungen: «Es braucht mehr als nur materielle Hilfe, denn damit kann man die Mentalität der Leute nicht ändern.» Jrène Liggenstorfer erzählt an einem Beispiel, was sie damit meint: In einem Heim für ausgesetzte Babys fand sie Kleinkinder mit Hungerbäuchen, obwohl genügend Nahrung vorhanden war. Der Grund: Die Schoppen wurden den Kindern einfach ins Bett gelegt. Niemand kontrollierte, ob die Kinder sie auch austranken. So ungewöhnlich wie das Thuner Hilfswerk ist auch die Biographie von Jrène Liggenstorfer: Die gelernte Krankenschwester war 1976 als erste Schweizer Lastwagenfahrerin auf der Orientroute unterwegs, später war sie im Emmental Postautochauffeurin. In der Frauenstrafanstalt Hindelbank hat sie mit Drogensüchtigen gearbeitet. In der spärlichen Freizeit ist sie im Schützenverein und im militärischen Rotkreuzdienst aktiv. Nicht ohne Erfolg: Jrène Liggenstorfer war im letzten Jahr Schweizer Meisterin bei den militärischen Feldweibelwettkämpfen: «Das Organisieren habe ich im Militär gelernt.»

Armeematerial ist nützlich

Die Verbindungen zur Schweizer Armee sind auch für den Verein nützlich: Weil die Armee die Zahl der Basisspitäler reduziert, kommt der Verein immer wieder zu erstklassigem medizinischen Pflege und Verbrauchsmaterial. Das Schweizer Armeematerial wird in Rumänien sehr geschätzt. Angefangen hat alles fast zufällig: Als in Rumänien vor sechs Jahren der verhasste Diktator Ceausescu gestürzt wurde, hörte Funkamateur Ueli Liggenstorfer Notfrequenzen ab. Dort erfuhr er, wie unter den abenteuerlichsten Bedingungen der Transport eines lebenswichtigen Medikaments organisiert wurde. Damit war der Funke gelegt: Mit einem alten BedfordLastwagen begleitete er einen der ersten Hilfsgüterkonvois aus der Schweiz. Der Transporter blieb auf der Strecke - heute hat der Verein einen besseren Lastwagen: Es ist ein Volvo, Jahrgang 1976, seiner grünen Farbe wegen «Green Angel» - also «Grüner Engel» - genannt. Auch dieses Fahrzeug hat allerdings bereits über eine Million Kilometer auf dem Buckel.

Zurückhaltend mit Kleidern

Mit gutgemeinten Angeboten - Fahrzeuge, Medikamente oder Kleider - ist Vereinspräsidentin Jrène Liggenstorfer heute sehr wählerisch: «Wir wollen keine Abfälle nach Rumänien transportieren.» Zurückhaltend ist der Verein auch mit Kleiderspenden aus der Schweiz: Nur die besten Sachen werden ausgewählt. Der Fürsorgeverein der Stadt Sigishoara verkauft die Sachen dann in einem Laden. Mit dem Erlös wurden zwei Armenküchen und zwei Kinderspielplätze eingerichtet und ein Kindergarten renoviert. Bedürftige erhalten davon Gutscheine. Für ihre kritische Grundhaltung hat die Thunerin gerade kürzlich wieder eine traurige Bestätigung erhalten: sie musste ohnmächtig mitansehen, wie ein neugeborenes Baby wegen eines abgelaufenen Medikaments einer ausländischen Organisation sterben musste. Längst hat Jrène Liggenstorfer die Idee aufgegeben, alles selber machen zu wollen. Eine ihrer Stärken liegt darin, andere Leute zu motivieren. Immer wieder gelingt es ihr, Spezialisten für einige Wochen oder Monate zu gewinnen: Krankenschwestern, Förster, Schreiner, Sanitärinstallateure, Kindergärtnerinnen und natürlich immer wieder Lastwagenchauffeure.

Ehrenbürgerschaft

Warum fährt sie immer noch nach Rumänien, auch wenn das Leid anderswo vielleicht noch grösser ist? - «Was man einmal angefangen hat, muss man weiterführen.» Und was ist ihr Lohn: «Meine persönliche Befriedigung - die Anerkennung unserer Partner in Rumänien.» Gefreut hat sie auch die Ehrenbürgerschaft der siebenbürgischen Stadt Sigishoara, die sie 1993 erhalten hat.

Geldpreis aus Basel

Mehr Unterstützung wünscht sich Jrène Liggensorfer hingegen aus der Schweiz: Dass die «Glückskette» sie nur für eine «wohltätige Hausfrau» hält, macht ihr zu schaffen. Immerhin denken nicht alle so: Diesen Frühling zeichnete das Basler Aeschenkollegium die Thunerin für ihre vorbildliche, gemeinnützige Arbeit aus: Jrène Liggenstorfer erhielt einen Scheck über 10 000 Franken. Aber das Geld blieb nicht lange auf dem Konto. Es deckt gerade 20 Prozent der Kosten einer laufenden Spitalrenovation.


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