Computerspiele sind keine Kinderspielzeuge
Die nächste Generation der Spielkonsolen soll den Personalcomputern
Konkurrenz machen
Von Dominik Landwehr*
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Im nächsten Monat wird Sega in den USA und in Europa mit grossem
Marketing- und Werbeaufwand eine neue Spielkonsole auf den Markt bringen.
Auf der Basis von Windows CE und mit einem 128-Bit-Risc-Prozessor von Nec,
einem leistungsfähigen Graphikbeschleuniger und einem eingebauten
Modem für den Internet-Zugriff setzt dieses Gerät bei den Spielkonsolen
wie auch bei den Heim-PC neue Massstäbe. Doch die Konkurrenz hat sich
gegen die Herausforderung gewappnet. Sony als Marktführerin hat zum
einen die Verkaufspreise für die entsprechenden Produkte gesenkt und
plant zum andern, ebenfalls im September, detaillierter über das Nachfolgemodell
der Playstation zu informieren.
Computerspiele sind keine Spielzeuge. Sie sind Impulsgeber für
die Weiterentwicklung der Computertechnik und ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.
Dies wurde nirgends so klar wie an der Electronic Entertainment Expo (E3),
die vom Branchenverband Interactive Digital Software Association (IDSA)
diesen Mai veranstaltet wurde. 55 000 Interessierte aus 70 Ländern
pilgerten zu dieser Messe nach Los Angeles, um sich über die neusten
Trends zu informieren und nicht weniger als 1900 neue Spiele anzusehen.
Nach eigenen Angaben setzte die Branche im vergangenen Jahr 6,3 Milliarden
Dollar um, andere Quellen reden gar von 9 Milliarden Dollar Umsatz. Sie
verzeichnete - ebenfalls nach eigenen Angaben - ein Wachstum von 29 Prozent.
Branchenvertreter, aber auch Analysten rechnen für die kommenden Jahre
ebenfalls mit hohen Wachstumsraten. In den USA könnte der Umsatz für
Computerspiele im laufenden Jahr den Umsatz, den die Kinos machen, zum
erstenmal übertreffen.
Räuber und Gendarm
Auch die Zahlen aus der Schweiz lassen sich sehen: Bei ABC Software - einem
der grössten Distributoren für Unterhaltungssoftware in der Schweiz
- schätzt man das Marktvolumen für die ganze Schweiz auf 205
Millionen Franken. Davon entfallen 80 Millionen auf Spiele für den
PC, 100 Millionen auf Konsolenspiele (Videogames). Der Bereich der sogenannten
Edutainment Software - Unterhaltungs- und Informationssoftware - ist mit
einem Volumen von rund 25 Millionen Franken eher klein. Giuseppe Carrabs,
Geschäftsleiter von ABC Software, warnt vor einem übertriebenen
Optimismus und zweifelt auch die grossen Wachstumsraten der Branche weltweit
an. Die Software-Piraterie macht seiner Branche im Moment schwer zu schaffen:
Im April und Mai erlebte seine Firma im Bereich der Software für die
Sony Playstation einen Umsatzrückgang von bis zu 50 Prozent. Als Ursache
wird die Software- Piraterie vermutet. Es gibt, so führt der Importeur
aus, Läden, die mehr Lösungsbücher als CD- ROM verkaufen,
was als Hinweis auf Piraterie zu werten sei. Gemäss Schätzungen
der IDSA gehen den Spieleherstellern wegen der Software-Piraten jährlich
3,2 Milliarden Dollar verloren.
Die Annahme, dass Computerspiele stets auf einem Computer gespielt werden,
ist falsch, wenn man Computer mit PC oder Mac gleichsetzt. Videogames,
die mit Hilfe sogenannter Konsolen gespielt werden, sind in der Computerspielbranche
das Segment mit den grössten Wachstumsraten und entsprechenden Gewinnen
für die Hersteller. Nach Angaben des britischen «Economist»
sorgten die Verkäufe von Hard- und Software rund um die Playstation
im vergangenen Jahr für knapp die Hälfte des gesamten operationellen
Gewinns von Sony. Spielkonsolen - allen voran jene von Atari mit dem Pillenfresserspiel
«Pac Man» - erlebten in den frühen achtziger Jahren ihre
erste Blütezeit. Es waren dann japanische Firmen, angeführt von
Sega und Nintendo, die nach dem Niedergang von Atari dieses Geschäft
in den neunziger Jahren wieder aufleben liessen. Heute dominiert Sony Computer
Entertainment diesen Markt mit einem Anteil von 65 bis 70 Prozent klar.
Nintendo besetzt mit seiner Konsole Nintendo 64 eine - allerdings sehr
starke - Minderheitsposition. Sega hat demgegenüber noch einen Anteil
von einigen wenigen Prozenten.
Die Spielkonsole als Web-Terminal
Sony, Nintendo und Sega wollen in den nächsten Monaten neue Modelle
auf den Markt bringen. Sega, die in den letzten Jahren grosse Marktanteile
verloren hat, hofft mit Dreamcast auf ein Comeback. Das Gerät, das
in Japan bereits im Handel ist, soll hierzulande gegen Ende September für
knapp 400 Franken auf den Markt kommen. Es soll bezüglich der Graphikaufbereitung
einen gängigen Pentium-II-PC übertreffen. Die wichtigste Neuerung
dürfte aber das eingebaute V.90-Modem sein, das die Möglichkeit
bietet, mit diesem rein äusserlich sehr einfachen Gerät aufs
Internet zuzugreifen. Damit können Spieldaten ausgetauscht werden,
und ein simultanes Spielen mit weit entfernten Partnern wird möglich.
Mit einer zusätzlich erhältlichen Tastatur lässt sich das
Gerät in ein vollwertiges Internet-Terminal verwandeln. Zu einem späteren
Zeitpunkt sollen auch ein DVD-Player angeboten werden sowie ein Zip-Laufwerk,
mit dem die Internet-Daten gespeichert werden können.
Frühestens im Herbst 2000 werden die neuen Konsolen von Sony und
Nintendo erwartet, die mindestens ähnliche Eigenschaften aufweisen
werden. Bei beiden soll ein DVD-Player integriert sein, wodurch die Geräte
zu Zentren der Heimunterhaltung werden könnten. In Japan will Sony
die Playstation bereits im Januar nächsten Jahres für rund 390
Dollar auf den Markt bringen. Dieser Preis deckt gemäss den Analysten
von Merrill-Lynch die Produktionskosten nicht; die Verluste im Hardware-Geschäft
sollen aber durch die Gewinne beim Verkauf entsprechender Software mehr
als aufgewogen werden.
Alle Hersteller von Konsolen pflegen beim Zusammenspiel von Hardware
und Software derzeit noch proprietäre Schnittstellen. Die Spiele lassen
sich zwischen den Konsolen nicht austauschen, die Konsumenten werden so
an einen Hersteller gebunden. Spiele für Konsolen sind denn auch deutlich
teurer als PC-Spiele. Emulatoren bedrohen nun aber dieses Geschäftsmodell,
indem sie es ermöglichen, die jeweilige Software auch auf einem gewöhnlichen
PC zu spielen. Erste Klagen wurden zugunsten der Konsolenhersteller entschieden,
doch ist es fraglich, ob sich die Entwicklung dadurch stoppen lässt.
Wenig Änderungen bei den Konzepten
Trotz der steigenden Nachfrage und trotz den technischen Fortschritten
lassen sich kaum neue Spielkonzepte ausmachen: Die Industrie setzt auf
Bewährtes und versucht - ähnlich wie beim Film - den Erfolg von
Blockbustern zu verlängern. Am eindrücklichsten geschieht das
beim Spiel «Tomb Raider», dessen vollbusige Hauptfigur Lara
Croft mittlerweile Kultstatus erreicht hat und zu einer eigentlichen Ikone
der elektronischen Kultur geworden ist: 150 bis 200 Millionen Dollar hat
der US-Hersteller Eidos Interactive mit Spielen mit dieser aggressiven
Schönheit bisher umgesetzt. Auf dem Markt gibt es drei Versionen,
dem Vernehmen nach arbeiten die Software- Ingenieure bereits an einer vierten.
Als eines der ersten Computerspiele erlangte ein Pingpong-Spielautomat
in den siebziger Jahren Popularität. Mit zwei schmucklosen Balken
liess sich ein weisser Punkt reflektieren. Seither haben sich verschiedene
Spieltypen herausgebildet. Ins Genre der Simulatoren und Simulationen gehören
etwa der Flugsimulator von Microsoft und die Wirtschaftssimulation «Simcity».
Strategiespiele wie «Age of Empires» oder «Command &
Conquer» simulieren militärische Kampagnen auf dem Reissbrett.
Fast klassische Vertreter des Genres Abenteuer- und Rollenspiele sind die
Spiele «Myst» und «Riven»; erfolgreichstes Rollenspiel
im vergangenen Jahr war «Zelda». Berühmtestes Beispiel
eines Action Game ist das bereits erwähnte «Tomb Raider»
mit Lara Croft. Bei den Hüpf- und Rennspielen (Jump'n'Run Games) rennt
eine Hauptfigur - gesteuert vom Joystick des Spielers - durch labyrinthische
Gänge, in denen allerlei Gefahren drohen, die sich in der Regel mit
einem gewagten Sprung überwinden lassen. Berühmtestes Beispiel
ist die Serie von Spielen rund um die Figur des Super Mario des Herstellers
Nintendo.
Blutlachen statt Kussflecken
Schon Anfang der neunziger Jahre interessierte sich die Filmindustrie von
Hollywood für die Welt der elektronischen Spiele. Erste Versuche,
die Inhalte vom Computerbildschirm auf die Leinwand zu bringen, scheiterten.
In jüngster Zeit häufen sich erneut die Versuche, vermutete Synergien
auszunutzen. Aktuelles Beispiel ist die Vermarktung von «Star Wars»:
Zeitgleich mit dem Film hat die Produktionsfirma von George Lucas zwei
Computerspiele auf den Markt gebracht, welche das «Star Wars»-Gefühl
als interaktive Unterhaltung nach Hause tragen sollen. Auch Disney vermarktet
parallel zu seinen Trickfilmen jeweils eine Serie von Computerspielen.
Das Muster könnte sich in den nächsten Jahren umkehren: Lawrence
Gordon und Lloyd Levin von Paramount Pictures wollen aus dem Bestseller-
Spiel «Tomb Raider» und seiner Kultfigur Lara Croft einen Film
machen, und die Branchenmagazine spekulieren bereits darüber, wer
den Part der vollbusigen Revolverheldin spielen darf. Auch andere sollen
verfilmt werden, so das Kampfspiel «Mortal Kombat III», die
Spiele «Duke Nukem» oder das wenig sympathische «Resident
Evil».
Die Software-Industrie will in jedem Fall die Kontrolle über das
Endprodukt behalten. So macht Eidos Interactive, Hersteller von «Tomb
Raider», den Filmproduzenten klare Vorgaben: keine Nacktszenen, kein
Sex und «no smoking». Weniger Probleme scheint man demgegenüber
mit den ständigen Schiessereien zu haben.
Das Ende der Jugend
Bleibt die Frage: Wer sind die Konsumenten von Computerspielen? - Natürlich
gehören Kinder und Jugendliche dazu, und wer an einem schulfreien
Nachmittag durch die Spielwarenabteilungen der hiesigen Warenhäuser
wandert, findet diese These auch bestätigt. Aber es sind nicht nur
Kinder, sondern zunehmend auch junge, männliche Erwachsene: Dies bestätigen
auch Importeure und Hersteller. Renato Meier, der mit der Basler Waldmeier
AG den japanischen Hersteller Nintendo vertritt, glaubt allerdings auch
an einen Mentalitätswandel. Erwachsene hätten auch früher
gerne gespielt, es sei heute einfach kein Problem mehr, dazu auch zu stehen.
Die Kinder von gestern sind mit ihren bevorzugten Spielzeugen älter
geworden, und mit ihnen sind auch die Möglichkeiten der Computer Games
gewachsen.
Rund um die Flugsimulationsspiele, die übrigens auch von Flugprofis
ernst genommen werden, hat sich ein Zirkel von Anhängern gebildet,
die mit einer Ernsthaftigkeit, die schon fast an Besessenheit grenzt, spielen
und - via Internet - virtuelle Fluggesellschaften gegründet haben.
Anhänger des blutrünstigen Kultspiels «Quake» organisieren
sich auch hierzulande als Gruppe und treffen sich zu eigentlichen Meisterschaften
übers Internet, aber von Angesicht zu Angesicht. Völlig unabhängig
von der Herstellerfirma Sony werden auch in der Schweiz Playstation-Treffen
organisiert. Zielgruppe sind junge Erwachsene, die Turniere spielen sich
nachts in der Bar- und Disco-Szene ab. Die geschilderten Phänomene
mögen noch kleinere Gruppen betreffen - es gibt aber auch Anzeichen,
dass sich das Interesse an Computerspielen ausweitet: Ältere Jugendliche
und junge Erwachsene sollen mit der Sendung «Giga» im Kanal
NBC, an dem auch Microsoft beteiligt ist, angesprochen werden. Ganz ähnlich
ist das Bild beim Schweizer TV-Sender Star TV, der mit der Sendung «Komabros.»
ein Programm gestaltet, das sich ausschliesslich mit neuen Spielen für
die Playstation von Sony beschäftigt.
Dies alles deutet darauf hin, dass Computerspiele zu einem eigenständigen
kulturellen Phänomen geworden sind, das immer mehr über die Jugendkultur
im engeren Sinn hinauswächst. Wohin die Entwicklung geht, lässt
ein Blick auf Japan erahnen: Dort gibt es bereits zielgruppenspezifische
Spielsortimente für Manager.
* Der Autor arbeitet bei Migros Kulturprozent im Bereich Science &
Future.
Neue Zürcher Zeitung, 27. August 1999
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